Bildung einer Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens einem Jahr

Bildung einer Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens einem Jahr

Bei der Beurteilung der Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO sind weitere gegen den Beschuldigten anhängige Verfahren, hinsichtlich derer eine Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt, zu berücksichtigen. Drohen dem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren jeweils Strafen, die gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, die das Merkmal der Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist im Regelfall die Verteidigung in jedem dieser Verfahren notwendig.

1. Dem Angeklagten ist gemäß § 140 Abs. 2 StPO wegen der „Schwere der Tat“ ein Verteidiger beizuordnen. Die Schwere der Tat beurteilt sich vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung. Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung ist die Beiordnung eines Pflichtverteidigers in der Regel geboten, wenn dem Angeklagten die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe droht, die mindestens im Bereich von einem Jahr liegt1.

Zwar ist gegen den Angeklagten erstinstanzlich eine solche Freiheitsstrafe nicht verhängt worden, und infolge des in der Berufungsinstanz zu beachtenden Verschlechterungsverbotes muss er auch nicht mit einer ungünstigeren Rechtsfolge rechnen.

Neben der dem Angeklagten hier drohenden Strafe sind wegen der bei § 140 Abs. 2 StPO stets erforderlichen Gesamtbewertung aber auch sonstige schwerwiegenden Nachteile zu berücksichtigen, die er infolge der drohenden Verurteilung zu gewärtigen hat2. Die Grenze der Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe ist deshalb auch dann zu beachten, wenn ihr Erreichen oder Überschreiten erst infolge einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt.

Entgegen der Auffassung des Vorsitzenden der Berufungskammer ist bei der Betrachtung der Gesamtwirkung der drohenden Strafe der Blick nicht auf solche Verfahren beschränkt, in denen eine gesamtstrafenfähige andere Strafe bereits rechtskräftig geworden ist. Diese Auffassung, die von der im Nichtabhilfebeschluss zum Ausdruck gebrachten Bewertung getragen ist, die Berücksichtigung nur zu erwartender (also noch nicht rechtskräftig verhängter) gesamtstrafenfähiger Strafen führe zu „einem bei Mehrfachtätern – auch aus fiskalischer Sicht – nicht hinnehmbaren Ausufern des Instituts der notwendigen Verteidigung“, wird dem Grund und Wesen der notwendigen Verteidigung nicht gerecht. Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die Bestellung eines Verteidigers konkretisieren das Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verhandlungsführung. Der Beschuldigte muss die Möglichkeit haben, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Dazu gehört auch, dass ein Beschuldigter, der die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufzubringen vermag, in schwerwiegenden Fällen von Amts wegen und auf Staatskosten einen rechtskundigen Beistand erhält3. Mit dem Institut der notwendigen Verteidigung und mit der Bestellung eines Verteidigers ohne Rücksicht auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Angeklagten sichert der Gesetzgeber das Interesse, das der Rechtsstaat an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren und zu diesem Zweck nicht zuletzt an einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten hat4. Ebenso wenig, wie das Institut der notwendigen Verteidigung der finanziellen Versorgung von Rechtsanwälten dient, darf sich das Strafgericht bei der Anwendung der entsprechenden Vorschriften der Strafprozessordnung in erster Linie von fiskalischen Erwägungen leiten lassen5. Auch kommt nach der gesetzlichen Konzeption des § 140 Abs. 2 StPO eine einschränkende Rechtsanwendung unter unmittelbarer Anknüpfung an die strafrechtliche „Karriere“ eines Beschuldigten nicht in Betracht. Das Landgericht verkennt, dass nicht erst und ausschließlich dasjenige (möglicherweise letzte von mehreren) Verfahren, in dem die (Gesamt-)Strafe schließlich zum Überschreiten der maßgeblichen Grenze führt, für den Beschuldigten die aus einer Verurteilung drohenden Nachteile auslöst; vielmehr hat jede Einzelstrafe, die voraussichtlich zum Bestandteil einer die Grenze überschreitenden Gesamtfreiheitsstrafe werden wird, diese potenzielle Bedeutung, gleich, ob sie in einem verbundenen oder in getrennten Verfahren ausgesprochen wird.

Der Senat teilt deshalb die in Rechtsprechung und Literatur überwiegend vertretene Auffassung, dass der Gerichtsvorsitzende bei der Beurteilung der Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO weitere gegen den Beschuldigten anhängige Verfahren, hinsichtlich derer eine Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt, zu berücksichtigen hat6.

Voraussetzung dieser Berücksichtigungspflicht ist – selbstverständlich –, dass das andere Verfahren dem über die Pflichtverteidigerbestellung entscheidenden Vorsitzenden bekannt ist7.

2. Nach allem gilt: Drohen dem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren jeweils Strafen, die gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, die das Merkmal der „Schwere der Tat“ im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist im Regelfall – ein starrer Schematismus ist damit nicht verbunden8 – die Verteidigung in jedem dieser Verfahren notwendig. Anderenfalls hinge die Entscheidung, ob dem Angeklagten ein Verteidiger beizuordnen ist, von bloßen Zufälligkeiten, nämlich u.a. davon ab, ob die verschiedenen Verfahren verbunden werden oder nicht9.

Bei der Beurteilung der Auswirkungen der möglichen Gesamtstrafenbildung ist jeweils eine Prüfung im Einzelfall dahin erforderlich, ob das andere Verfahren und die Erwartung späterer Gesamtstrafenbildung das Gewicht des abzuurteilenden Falles so erhöht, dass die Mitwirkung eines Verteidigers geboten ist. Eine rechtserhebliche Verschärfung des Strafübels kommt etwa dann in Betracht, wenn durch die zu erwartende Gesamtstrafenbildung eine sonst mögliche Strafaussetzung zur Bewährung gefährdet wird10.

Es liegt auf der Hand, dass der Vorsitzende bei dieser ihm obliegenden Einzelfallprüfung (wie im eigenen, so auch) in Bezug auf die im anderen Verfahren zu erwartende Sanktion nur eine prognostische Beurteilung nach pflichtgemäßem Ermessen11 vorzunehmen hat.

Kammergericht, Beschl. v. 04.01.2017 – 4 Ws 212/16 – 161 AR 190/16

  1. vgl. OLG Naumburg StV 2013, 433; KG StV 1982, 412; Senat NStZ-RR 2013, 116; Laufhütte in KK-StPO, 7. Auflage, § 140 Rn. 21; Lüderssen/Jahn in LR-StPO 26. Aufl., § 140 Rn. 57; Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 140 Rn. 23, jeweils mwN []
  2. vgl. OLG Hamm StV 2004, 586 []
  3. vgl. BVerfGE 46, 202, 210; OLG Stuttgart NStZ-RR 2012, 214 = OLGSt StPO § 140 Nr. 31 []
  4. vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO, Rn. 1 mwN []
  5. vgl. dazu auch Senat, Beschluss vom 9. Dezember 2016 – 4 Ws 191/16 – [betreffend eine Entscheidung desselben Kammervorsitzenden] []
  6. vgl. OLG Hamm aaO; OLG Naumburg StV 2014, 11; OLG Stuttgart aaO; KG, Beschluss vom 26. Oktober 2016 – [3] 161 Ss 162/16 [88/16] –; Laufhütte aaO; Lüderssen/Jahn aaO mwN []
  7. vgl. etwa OLG Stuttgart aaO: „soweit bekannt“ []
  8. vgl. OLG Stuttgart aaO []
  9. vgl. OLG Naumburg aaO []
  10. vgl. OLG Stuttgart aaO []
  11. vgl. zu diesem Entscheidungsmaßstab etwa Meyer-Goßner/Schmitt aaO, Rn. 22 mwN []