Der vom Angeklagten erklärte Rechtsmittelverzicht steht der Zulässigkeit des fristgerecht eingelegten Rechtsmittels nicht entgegen; er ist unwirksam.
Zwar kann ein Rechtsmittelverzicht als Prozesshandlung grundsätzlich nicht widerrufen, angefochten oder sonst zurückgenommen werden. Indes ist die Verzichtserklärung unwirksam, wenn im Falle notwendiger Verteidigung kein Verteidiger mitgewirkt hat, weil sich der Angeklagte nicht mit einem Verteidiger beraten konnte, der ihn vor übereilten Erklärungen hätte abhalten können1. Der hiervon abweichenden Ansicht, in solchen Fällen setze die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts zusätzlich besondere Umstände voraus, aufgrund derer Bedenken bestehen, dass der Angeklagte sich der Bedeutung und der Tragweite seiner Erklärung bewusst gewesen ist2, ist entgegenzuhalten, dass § 140 Abs. 2 StPO nicht nur vor, sondern auch nach der Urteilsverkündung Bedeutung hat3. Der in einer früheren Entscheidung vertretenen Ansicht des 1. Senats des Oberlandesgerichts Naumburg4 folgt der Senat aus dem genannten Grund nicht.
Hier sind die Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung gegeben. Gemäß § 140 Abs. 2 StPO ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich, wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann. Nach überwiegender Meinung gebietet die „Schwere der Tat“, die sich vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung richtet, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers in der Regel dann, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu erwarten ist5. Da der Angeklagte auf Antrag der Staatsanwaltschaft zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr ohne Aussetzung zur Bewährung verurteilt worden ist, hat sich diese Erwartung schließlich auch erfüllt.
Die Sach- und Rechtslage war auch nicht besonders einfach, sodass auch nicht trotz der hohen Straferwartung die Mitwirkung eines Verteidigers entbehrlich gewesen wäre. Hier war über die Unerlässlichkeit einer kurzen Freiheitsstrafe (§ 47 StGB) zu entscheiden. Die Tatsache, dass gegen den Angeklagten erstmalig Freiheitsstrafe vollstreckt wird, könnte gegen die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen sprechen. Insoweit war zu erörtern, ob die erstmalige Hafterfahrung den Angeklagten nachhaltig beeindruckt und einen positiven Effekt auf sein künftiges Leben sowie seine Einstellung zur Rechtsordnung ausgeübt hatte6 und deshalb eine Freiheitsstrafe nicht unerlässlich im Sinne von § 47 Abs. 1 StGB war.
In der Gesamtschau der genannten Umstände ergibt sich, dass die Beiordnung eines Verteidigers bereits im Verfahren vor dem Amtsgericht erforderlich war. Da keine Beiordnung erfolgte, ist der Rechtsmittelverzicht des Angeklagten unwirksam.
OLG Naumburg, Beschluss v. 19.11.2011 – 2 Ws 245/11
- Meyer-Goßner, a.a.O., § 302 Rn. 25a m.w.N. zur Rspr. [↩]
- OLG Hamburg, NStZ 1997, 53, 54; OLG Brandenburg, StraFo 2001, 136 [↩]
- KG, NStZ-RR 2007, 209; OLG Hamm, StV 2010, 67; Meyer-Goßner a.a.O. [↩]
- NJW 2001, 2190 [↩]
- vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 140 Rn. 23, KK-Laufhütte, 6. Aufl., § 140 Rn. 4; LR-Lüderssen/Jahn, § 140 Rn. 57 jeweils m.N. zur Rspr. [↩]
- vgl. OLG Köln, NStZ-RR 2007, 266; OLG Hamburg, StV 2000, 353, 354 [↩]