Pflichtverteidigung bei drohendem Bewährungswiderruf in anderer Sache

Pflichtverteidigung bei drohendem Bewährungswiderruf in anderer Sache

Es liegt gemäß § 140 Abs. 2 ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn neben den Rechtsfolgen für die verfahrensgegenständliche Tat sonstige schwerwiegende Nachteile für den Angeklagten infolge der Verurteilung zu gewärtigen sind. Zu diesen Nachteilen gehört ein drohender Bewährungswiderruf jedenfalls dann, wenn die zu erwartende Verbüßungsdauer der in früheren Verurteilungen verhängten Freiheitsstrafen ein Jahr überschreitet.

OLG Celle, Beschluss vom 30.05.2012 – 32 Ss 52/12

Es handelt sich gemäß § 140 Abs. 2 StPO um einen Fall notwendiger Verteidigung im Hinblick auf den drohenden Widerruf zuvor gewährter Strafaussetzungen zur Bewährung aus drei unterschiedlichen Urteilen.

Die Beiordnung eines Verteidigers war jedoch aus einem anderen Grunde geboten. Zwar kann der Beiordnungsgrund nicht unmittelbar in der Schwere der Tat erblickt werden – die Angeklagte ist wegen Erschleichens von Leistungen zu einem Monat Freiheitsstrafe verurteilt worden -, es ist jedoch anerkannt, dass neben der Rechtsfolge für die verfahrensgegenständliche Tat auch sonstige schwerwiegende Nachteile zu berücksichtigen sind, die die Angeklagte infolge der Verurteilung zu gewärtigen hat1. Hierzu gehört insbesondere auch ein drohender Bewährungswiderruf2.

Die Angeklagte hätte bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ohne Strafaussetzung zur Bewährung den Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten (Gesamt-)Freiheitsstrafen zu erwarten. Mit der gegen die Angeklagte wegen der Tat verhängten Freiheitsstrafe von einem Monat hätte sie im Falle des Widerrufs der zur Bewährung ausgesetzten Strafen insgesamt 29 Monate Freiheitsstrafe zu verbüßen. In der Rechtsprechung wird jedoch bei einer Straferwartung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe und darüber in der Regel die Mitwirkung eines Verteidigers als notwendig angesehen, ohne dass es sich hierbei um eine starre Grenze handelt3. Die im Widerrufsfalle zu verbüßenden 29 Monate Freiheitsstrafe liegen derart deutlich über der Richtgrenze von einem Jahr Freiheitsstrafe, sodass es geboten ist – und auch bereits im Verfahren vor dem Amtsgericht und dem Landgericht notwendig war -, der Angeklagten einen Verteidiger beizuordnen.

  1. vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 140 Rdnr. 25 m. w. N. []
  2. vgl. BayObLG NJW 1995, 2738; OLG Brandenburg NJW 2005, 521; OLG Düsseldorf StraFo 98, 341; Laufhütte in KK-StPO, 6. Aufl., § 140 Rdnr. 21 m. w. N. []
  3. vgl. Meyer-Goßner, § 140 Rdnr. 23 m. w. N. []