Drohender Bewährungswiderruf in anderer Sache führt zu notwendiger Verteidigung

Drohender Bewährungswiderruf in anderer Sache führt zu notwendiger Verteidigung

Gemäß § 140 Abs. 2 StPO bestellt der Vorsitzende auf Antrag oder von Amts wegen einen Verteidiger, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.

» FAQ: Wann droht ein Bewährungswiderruf?

Im vorliegenden Fall hätte dem Angeklagten spätestens im Termin zur Hauptverhandlung wegen der Schwere der Tat ein Verteidiger bestellt werden müssen.

Eine Tat ist schwer, wenn die zu erwartenden Rechtsfolgen einschneidend sind1. Das ist der Fall, wenn eine längere Freiheitsstrafe, eine gravierende Maßregel der Besserung und Sicherung oder sonst eine erhebliche Folge der Verurteilung droht, die nicht unmittelbar im Rechtsfolgenausspruch liegt2. Jedenfalls bei einer Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe wird — auch wenn es sich hierbei nicht um eine starre Grenze handelt — unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat die Bestellung eines Pflichtverteidigers in aller Regel geboten sein, selbst wenn deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird3.

Als schwerwiegender mittelbarer Nachteil, den der Angeklagte infolge der Verurteilung zu gewärtigen hat und der die Bestellung eines Verteidigers geboten erscheinen lassen kann, ist unter anderem der drohende Widerruf einer Bewährung in anderer Sache anerkannt4. Wenngleich sich im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung eine schematische Zusammenrechnung der im zu beurteilenden Verfahren zu erwartenden Strafe mit einer zur Bewährung ausgesetzten Vorstrafe verbietet, kann auch bei einer verhältnismäßig geringen Straferwartung in dem aktuellen Verfahren die Bestellung eines Verteidigers geboten sein, wenn das drohende „Gesamtstrafübel“ deutlich über eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr hinausgeht5.

Nach diesen Maßstäben war im vorliegenden Fall unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat die Bestellung eines Verteidigers geboten. Zwar ergab sich aus den dem Angeklagten zur Last gelegten Taten des Erschleichens der Beförderung durch ein Verkehrsmittel („Schwarzfahren“) aufgrund des geringen Werts des nicht entrichteten Entgelts (insgesamt rund 40,– €) auch unter Berücksichtigung der Anzahl der Taten und der Vorstrafensituation des Angeklagten keine erhebliche Straferwartung, sondern lediglich eine solche von deutlich unter einem Jahr (Gesamt-)Freiheitsstrafe. Dem Angeklagten droht jedoch im Falle einer Verurteilung der Widerruf der ihm hinsichtlich mehrerer gegen ihn verhängter Freiheitsstrafen von insgesamt 3 Jahren, 5 Monaten und 2 Wochen gewährten Strafaussetzung (§ 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 StGB).

Das Unterlassen der nach § 140 Abs. 2 StPO erforderlichen Bestellung eines Verteidigers steilt einen absoluten Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO dar6. Es liegen auch keine Umstände vor, aufgrund derer ein Einfluss dieses Verfahrensfehlers auf das Urteil zum Nachteil des Angeklagten denkgesetzlich ausgeschlossen und der Bestand des Urteils deshalb ausnahmsweise nicht berührt wäre7.

OLG Saarbrücken, Beschluss v. 15.03.2013 – Ss 24/13 (16/13)

  1. vgl. BGHSt 6, 199; Senatsbeschluss, a.a.O.; KK-Laufhütte, StPO, 6. Aufl., § 140 Rn. 21 []
  2. vgl. Senatsbeschluss, a.a.O.; KK-Laufhütte, a.a.O. []
  3. vgl. Senatsbeschluss, a.a.O., m. w. N.; OLG Celle, Beschl. v. 30.5.2012 — 32 Ss 52/12 Rn. 11, zit. nach juris; KK-Laufhütte, a.a.O., m. w. N.; Meyer-Goßner, a. a. O., § 140 Rn. 23 m. w. N. []
  4. vgl. — jeweils m. w. N. — Senatsbeschluss, a.a.O.; OLG Celle, a.a.O., Rn. 10; KK-Laufhütte, a.a.O.; Meyer-Goßner, a.a.O., Rn. 25 []
  5. vgl. Senatsbeschluss, a.a.O. []
  6. vgl. BGHSt 15, 306; Meyer-Goßner, a.a.O., § 338 Rn. 41 []
  7. vgl. BGH NStZ 2006, 713; NStZ 2007, 352; StV 2011, 211; Meyer-Goßner, a.a.O., § 338 Rn. 2 []