§ 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ist nicht so weit auszulegen, dass dem Betroffenen in jedem Verfahren ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist, wenn er sich nur in einem Verfahren tatsächlich in Untersuchungshaft befindet.
1. Gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ist die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig, wenn gegen den Beschuldigten eine Untersuchungshaft vollstreckt wird. Allerdings ist § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO nicht so weit auszulegen, dass dem Betroffenen in jedem Verfahren ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist, wenn er sich nur in einem Verfahren tatsächlich in Untersuchungshaft befindet.
a) Diese Auslegung folgt nicht bereits aus dem Wortlaut des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO in der seit 01.01.2010 geltenden Fassung, der insofern nicht eindeutig ist1. Die Norm stellt zwar ausschließlich auf die Vollstreckung der Untersuchungshaft als Anknüpfungspunkt für die Erforderlichkeit der Pflichtverteidigung ab2. Sie enthält aber weder Zusätze einer etwaigen Beschränkung, wie „in der betreffenden Sache“ noch sieht sie eine ausdrückliche Erstreckung auf alle Verfahren vor, wie ebenfalls durch den Zusatz „in der betreffenden oder anderen Sache“ leicht möglich gewesen wäre3
Umgekehrt hätte genauso der Wortlaut des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO beschränkt werden können4, um klarzustellen, dass alle Falle die Untersuchungshaft (auch nur indirekt) betreffend, nunmehr von § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO erfasst werden sollen. Auch darauf hat der Gesetzgeber verzichtet.
b) Der Sinn und Zweck der Neuregelung spricht gegen eine weite Auslegung.
Zwar wurde die durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.07.2009 getroffene Neuregelung eingeführt, weil die bisherige Regelung in § 117 IV StPO a.F. und § 140 Abs. 1 Nr 5 StPO, die eine Pflichtverteidigerbestellung erst nach dreimonatiger Haftdauer vorsahen, mit Blick auf das Gewicht der mit der Untersuchungshaft verbundenen Grundrechtsbeeinträchtigung für unzureichend erachtet wurde5
Allerdings soll die Verteidigerbestellung dem Beschuldigten ermöglichen, die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung (selbst) überprüfen zu lassen. Dafür ist der Verteidiger frühzeitiger als im Regelfall des § 141 Abs. 1 StPO zu bestellen, nämlich gem. § 141 Abs. 3 S. 4 StPO „unverzüglich“ nach Beginn der Vollstreckung und zwar gem. § 141 Abs. 4 a.E. StPO durch das nach § 126 StPO zuständige Gericht also im Regelfall das Gericht, das den Haftbefehl erlassen hat6
In der Gesetzesbegründung heißt es insofern vor allem, dass dieses Gericht am besten mit der Sache“ vertraut sei7. Es dürfte aber offensichtlich sein, dass dieses Gericht nicht mit allen (anderen), gegebenenfalls räumlich weit entfernten und sachlich nicht in Zusammenhang stehenden Verfahren vertraut sein kann. Relevant kann somit nur das Verfahren sein, in welchem die Untersuchungshaft vollstreckt wird.
c) Auch die Historie und die Systematik sprechen für eine enge Auslegung des § 140 Abs 1 Nr. 4 StPO.
§ 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO enthält bereits eine Regelung zur notwendigen Verteidigung bei Haft Aus der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Rechtsausschusses zum Gesetzentwurf der Bundesregierung – Drucksache 16/11644 – folgt, dass § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO „(…) neben der Neuregelung des 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO unberührt“ bleibe8. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO bleibe demnach nicht nur anwendbar, wenn sich der Betroffene nicht in Untersuchungshaft sondern etwa in Straf- oder Abschiebehaft, sondern auch darüber hinaus, wenn sich der Beschuldigte mindestens 3 Monate in Untersuchungshaft befand und nicht mindestens 2 Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung auf freien Fuß gesetzt worden ist9 Der zuletzt genannte Anwendungsbereich des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO wäre aber hinfällig, wenn alle Verfahren über die Anwendung des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO aufgefangen würden. Die Anwendung des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO auf alle Verfahren, auch wenn der Betroffene sich nur in einer Sache in Untersuchungshaft befindet, stünde also klar im Widerspruch zur Intension des Gesetzgebers.
2. Auch die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO liegen nicht vor, insbesondere ist die Schwere der Tat nicht zu erkennen. Ob eine Tat als schwer zu beurteilen ist, bestimmt sich maßgeblich nach der zu erwartenden Rechtfolgenentscheidung10. Nach h.M. ist die Erwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe die Grenze, ab der ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben ist11.
Der Beschwerdeführer wurde zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 8 Monaten verurteilt. Die Tat war vor diesem Hintergrund nicht als schwer zu qualifizieren.
3. Auch die Voraussetzungen des § 408b StPO liegen nicht vor. Danach ist dem Angeschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, ein Verteidiger zu bestellen, wenn mit Strafbefehl eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr verhängt werden soll. Zum einen erfolgte die Verteidigungsanzeige des Rechtsanwalts pp. jedoch bereits zum 27.01.2017. § 408b StPO soll jedoch gerade (nur) verhindern, dass gegenüber einem völlig unverteidigten Beschuldigten im Strafbefehlswege eine Freiheitsstrafe verhängt wird. Zum anderen gilt die Beiordnung nach § 408b StPO nur für das Strafbefehlsverfahren selbst, nicht jedoch für das Hauptverfahren12. Unterbleibt die Beiordnung entgegen der zwingenden Vorschrift, etwa weil auch ein entsprechender Antrag von der Staatsanwaltschaft versehentlich versäumt wurde, so ist der Verstoß folgenlos, da entweder ein zulässiger Einspruch zur Hauptverhandlung führt oder der Strafbefehl rechtskräftig wird13. Nach dem wirksam eingelegten Einspruch gegen den Strafbefehl beurteilt sich die Frage der notwendigen Verteidigung ausschließlich an § 140 StPO.
LG Dresden, Beschluss vom 23.05.2018 – 14 Qs 16/18
- LG Osnabrück, Beschluss vom 06.06.2016 – 18 Qs 526 Js 9422/16, BeckRS 2016, 13008 [↩]
- OLG Frankfurt NStZ-RR 2011, 19 [↩]
- LG Osnabrück, Beschluss vom 06.06.2016 – 18 Qs 526 Js 9422/16, BeckRS 2016, 13008 [↩]
- LG Saarbrücken vom 16.06.2010 – 3 Qs 28/10 – zitiert nach juris [↩]
- OLG Frankfurt a.a.O.; BT-Dr. 16/13097, S. 18 [↩]
- LG Osnabrück, Beschluss vom 06.06.2016 – 18 Qs 526 Js 9422/16, BeckRS 2016, 13008 [↩]
- BT-Drucksache 16/13097, S. 19 [↩]
- LG Saarbrücken StRR 2010, 308, Rn. 16; BT-Drucks. 16/13097, S. 19 [↩]
- LG Saarbrücken, a.a.O. Rn. 16; BT-Drucks 16/13097, S. 19 [↩]
- BGH NJW 1954, 1415; Meyer-Goßner/Schmitt Rn. 23 m.w.N. [↩]
- OLG Naumburg BeckRS 2013, 00134; OLG München NJW 2006, 789, OLG Düsseldorf NStZ 1995, 147, BayObLG NStZ 1990, 142; LG Koblenz StV 2009, 237, Meyer-Goßner/Schmitt Rn 23 m.w.N.; BeckOKStPO/Krawczyk, StPO § 140 Rn. 18 [↩]
- Meyer-Goßner StPO, § 408b StPO, Rn 6 [↩]
- KK-StPO/Maur Rn. 4 [↩]