Pflichtverteidigung eines Sprachunkundigen ist schwierige Sachlage

Pflichtverteidigung eines Sprachunkundigen ist schwierige Sachlage

Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist bei einem der deutschen Sprache unkundigen Beschuldigten jedenfalls wegen der Schwierigkeit der Sachlage geboten, § 140 Abs. 2 S. 1, 2. Alt. StPO.

Einem die deutsche Sprache nur unzureichend beherrschenden Angeklagten ist eine effektive Verteidigung nur mit einem Verteidiger möglich.

Eine effektive Verteidigung wird vor diesem Hintergrund nur möglich sein bei Kenntnis der Akte, insbesondere der bei der Polizei gemachten Angaben der vorgenannten Beteiligten. Denn in der Hauptverhandlung werden voraussichtlich entsprechende Vorhalte gemacht werden müssen. Damit dürfte der Beschwerdeführer überfordert sein, zumal ihm bislang keine schriftliche Übersetzung der Anklageschrift in die türkische Sprache zur Verfügung gestellt wurde. Dabei schreibt § 187 Abs. 2 S. 1 GVG genau dies im Regelfall vor, wobei die Übersendung der schriftlichen Übersetzung gemäß § 187 Abs. 2 S. 3 GVG unverzüglich zu erfolgen hat, d.h. so früh wie möglich.

Das Amtsgericht Kiel hätte deshalb spätestens unmittelbar nach Eingang des Schriftsatzes vom 23. Juni 2015, also vor bereits fast einem halben Jahr, eine Übersetzung der Anklageschrift in die türkische Sprache und die Übersendung der übersetzten Anklageschrift an den Beschwerdeführer veranlassen müssen. Auf die mündliche Übersetzung der Anklageschrift bei Beginn der Hauptverhandlung muss sich der Beschwerdeführer nicht verweisen lassen. An die Stelle der schriftlichen Übersetzung kann nach § 187 Abs. 2 S. 4 GVG zwar eine mündliche Übersetzung oder eine mündliche Zusammenfassung treten, wenn dadurch die strafprozessualen Rechte des Beschuldigten gewahrt werden, was nach § 187 Abs. 2 S. 5 GVG regelmäßig der Fall ist, wenn der Beschuldigte – wie hier – einen Verteidiger hat (vgl. dazu und zum folgenden BGH, Beschluss vom 10. Juli 2014, Az. 3 StR 262/14). Insoweit hatte der Gesetzgeber indes vor allem die Übersetzung von Urteilen im Blick; die Verpflichtung zur schriftlichen Urteilsübersetzung sollte in der Regel dann nicht greifen, wenn eine effektive Verteidigung des nicht ausreichend sprachkundigen Angeklagten dadurch ausreichend gewährleistet wird, dass der von Gesetzes wegen für die Revisionsbegründung verantwortliche Rechtsanwalt das schriftliche Urteil kennt.

Geht es um die Übersetzung der Anklageschrift, ist die Verfahrenslage aber eine andere, weil durch die Mitteilung der Anklageschrift gerade die durch Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) MRK gewährleistete Information des Beschuldigten über den Tatvorwurf „in allen Einzelheiten“ bewirkt werden soll. Auch die Erklärungsrechte des § 201 Abs. 1 S. 1 StPO werden beschnitten, wenn der Angeschuldigte über den Anklagevorwurf nicht umfassend und zeitnah, d.h. noch vor der Hauptverhandlung, unterrichtet wird. Das gilt jedenfalls dann, wenn – wie hier – die Sachlage nicht einfach bzw. überschaubar ist.

Landgericht Kiel, Beschluss vom 10. November 2015 – 10 Qs 100/15